Mittwoch

Heute Morgen – es ist bereits Mittwoch – verlassen wir unsere Unterkunft. Wir wissen zwar noch nicht, was uns die neue Unterkunft bringt, aber schlimmer kann es fast nicht werden. Cordula und ich haben die letzten beiden Nächte auf unseren Handtüchern geschlafen, weil das Bettlaken beim näheren Hinschauen wie eine ganz zart gezeichnete Schatzkarte mit vielen kleinen Hinweisen aussah. Die einzige Entschädigung und Freude war zum Frühstück am Wasserloch die große Tierschar. Giraffen, Wasserbüffel, Sträuße, Springböcke und anderes Getier.

Heute ist wieder mal der Terminkalender voll. Zunächst besuchen wir das alte Farmhaus, in dem früher mal der Kindergarten untergebracht war. Ich hoffe, vielleicht noch ein paar Spielsachen und unsere Hängematten zu finden. Der Nachbar, ein namibianischer Farmer namens Willem, der sehr gut deutsch spricht, öffnet uns freundlicherweise die Tore. Das Außengelände diente in den letzten Monaten als Filmkulisse. Hier wurde ein Film über die Zeiten, als Herero und Deutsche lebten und kämpften, gedreht. Willem war während der Dreharbeiten dabei, erzählt spannende Details und schickt uns später einige Drehszenen. Wir sind jetzt schon gespannt, wann denn der Film in die Kinos kommt. Er wird „Der Platz in der Sonne“ heißen.

Leider ist von den Spielsachen nichts mehr da. Ehrlich gesagt hatte ich auch fast nicht damit gerechnet. Willem und seine Frau Silke kannten als Nachbarn den Kindergarten sehr gut, haben oft geholfen, wenn Toini und ihre Kinder am gefüllten River nicht weg kamen, haben manchmal Lebensmittel vorbei gebracht. Er unterstreicht, was wir auch bereits schon wissen: Toini ist eine sehr kinderliebe, kämpferische, taffe Frau. Ohne sie gäbe es diesen Kindergarten nicht mehr. Sie hat sich nach der Schließung die Kinder, Stühle und Tische geschnappt, diese alte Blechhütte gesucht und weitergemacht. Apropos Blechhütte: Wir sind schon total gespannt, ob die Baumaterialien angekommen sind und vielleicht auch schon mit dem Bau begonnen wurde. Hier ticken die Uhren ja etwas anders als bei uns.
Bei der Verabschiedung von Willem sagt er so ganz nebenbei, wenn wir Hilfe bräuchten, sollten wir seine Frau Silke fragen. Sie hatte schon immer ein großes Herz für die Kinder aus den Townships. Was? Echt? Wir zerbrechen uns seit Tagen den Kopf, wie wir das künftig mit der Lebensmittel-Belieferung machen können für die geplante Essensversorgung der Kinder. Silke! Sie könnte unser Problem lösen. Sofort haken wir nach und fahren spontan mit Willem zu seiner Frau. Sie beide haben eine große Tierfarm mit Pferden, Kühen, Hühnern, Hunden und und und. Wir stellen uns kurz vor und verabreden uns für den darauffolgenden Tag abends bei ihr. Im Auto sitzend können wir drei unser Glück nicht fassen.

Unser nächster Termin ist eine Mädchenschule. Diese besucht Toinis große Tochter Frieda. In Namibia gibt es nach der zehnten beziehungsweise zwölften Klasse keine Möglichkeit der staatlichen Berufsausbildung. Hier gibt es keine Betriebe wie in Deutschland, die ausbilden. Man kann nur private Schulen besuchen, und in der Zeit wird dem Schüler ein Praktikum angeboten. Bezahlen müssen diese Ausbildung die Schüler respektive deren Eltern, die Schulkosten betragenrund 80 bis 100 € im Monat! Für Kinder aus den Townships also eine aussichtslose Sache bei einem durchschnittlichen Einkommen – wenn überhaupt – von 150 bis 200 €. Frieda besucht diese Schule, wird aber die Schule wieder verlassen müssen, weil sie und ihre Mutter das Schulgeld nicht aufbringen können. Wir wollen helfen, sprechen mit der Schulleiterin, bitten um Zahlungsaufschub, und werden mit Freunden besprechen, ob wir Frieda nicht helfen können. Hier wird also das eigentliche Desaster offenkundig. Kein Geld, keine Ausbildung, kein Job, kein Geld. Ein Teufelskreis. Wie gut hat es da doch unsere Jugend in Deutschland. Sie bekommt noch Geld für die Ausbildung. Was für eine verrückte Welt.

Die Schulleiterin ist sehr freundlich und verständnisvoll. Sie gewährt uns ein klein wenig Aufschub.

Danach treffen wir uns um zwölf Uhr mit Ulrike May, einer ausgewanderten Schweinfurterin, mit der wir uns schon am Sonntag getroffen haben, die hier in Namibia für einige Hilfsorganisationen tätig ist und selbst mittlerweile in der Hauptstadt ein Kinderheim betreut. Gemeinsam mit ihr wollen wir ans andere Ende der Stadt zu „Meme Kauna“ (ist oshiwambo und heißt: Mutter Freund) fahren. Sie betreibt bereits seit vielen Jahren einen Kindergarten und eine Suppenküche, ist mittlerweile Mitglied im Stadtrat und für uns eine wichtige Person. Wir wollen von ihr lernen und brauchen ihre Unterstützung bei unserem eigenen Projekt.

Meme Kauna kennt in Okahandja jeder. Sie ist die „kleine Mutter Teresa“ dieser Stadt. Umso erfreuter sind wir über dieses Treffen. Uns interessiert am meisten die Organisation der Suppenküche und die Vorschriften zum Betrieb eines Kindergartens. Zur Küche: Gekocht wird traditionell in sogenannten Potjes auf dem offenen Feuer! Die Hauptnahrung sind Maismehl, Nudeln, ein- bis zweimal im Monat Fleisch, ansonsten viel Kohl (er enthält viele Nährstoffe). Da wir keine Vorstellung haben, wie viel und was wir für unsere eigene geplante Suppenküche brauchen, bietet uns Ulrike ihre Hilfe an. Wir werden sie am Samstag auf unserer Rückfahrt zum Flughafen noch einmal besuchen.

Es ist bereits Nachmittag, es sind 36 Grad, wir sind müde, am liebsten würden wir in unsere neue Unterkunft fahren, duschen und etwas ausruhen. Aber wir haben einen Termin! Mit Toini und Johanna. Johanna wird unsere zweite Kindergärtnerin, und wir haben heute eine Art „Personalgespräch“ einberufen. Beide sollen wissen, was unser Club erwartet, wir vereinbaren die künftigen Zahlungsmodalitäten und besprechen die weiteren Pläne. Solange wir das Grundstück und das gesamte Baugeld noch nicht haben, müssen wir den Kindergarten weiterhin in der Blechhütte und – hoffentlich bald – in der neuen, größeren Blechhütte betreiben. Wir fotografieren all Ihre Personalien, Schulabschlüsse und Zeugnisse. Johanna wird eine Ausbildung machen müssen. Toini hat ein Ausbildungsdokument, aber ob es ausreicht, wird sich zeigen.

Im Anschluss fahren wir zum Kindergarten. Wir wollen sehen, was sich getan hat. Namibianer haben ihr eigenes Tempo und können sehr unzuverlässig sein, das haben wir letztes Jahr beim Bau von Toinis Haus gesehen. Die Fahrt durch die Townships ist jedes Mal wieder ein Abenteuer. Zum Glück haben wir Toini im Auto, die uns den Weg zeigt, denn in den letzten Tagen sind wir drei ständig wie in einem Labyrinth auf der Suche nach der richtigen Blechhütte umher geirrt. Tausende Blechhütten! Da muss man schon ganz genau hinsehen und auf kleinste Details und Hinweise achten.
Als wir das Grundstück erreichen sind wir fassungslos.

Darauf waren wir nicht vorbereitet. Oh mein Gott! Da steht schon fast die gesamte neue Hütte. Thomas, unser „Bauleiter“, ist stolz und wir können es nicht glauben. Wir haben für morgen, also Donnerstag, ein Kinderfest mit den Müttern geplant, und Thomas sagt: „Da werden wir auch das neue Haus einweihen!“ Dieser Mann ist ein Glückstreffer, er kann uns bei unserem richtigen Neubau eine große Hilfe sein. Solche fleißigen, zuverlässigen Menschen gibt es ganz selten. Und wir haben ihn!

Heute ist echt unser Glückstag. Frühs die Silke und jetzt er! Noch schnell ein paar Fotos, Absprachen zum Fest, Torte im Supermarkt bestellen, Toini heim fahren, dann endlich ab in die Unterkunft! Es ist fast 18:00 Uhr und wir sind müde! Unsere neue Unterkunft liegt an einem Stausee unweit von Okahandja. In einem kleinen Ressrt stehen kleine Bungalows mit Seeblick. Wir haben nicht viel erwartet, aber heute ist wirklich unser Glückstag, und wir werden mit Luxus belohnt. Saubere, weiße Betten, moderne Bäder, traumhafte Ausblicke! Wir fühlen uns wie im Paradies. Cordula und ich springen vor Freude in den Pool. Etwa 50 Meter entfernt besucht uns eine Kudu-Familie! Das Leben kann so schön sein. Nach diesem Tag gönnen wir uns eine leckeres Essen mit Wein auf der Seeblick-Terrasse des zur Anlage gehörenden  Restaurants.

Hinter dem See und noch etwas weiter erblicken wir von unserem Tisch aus eine riesige Feuerkette über mehrere Kilometer. Ein Farmland brennt! Die Chefin des Restaurants eilt immer wieder auf die Terrasse und ist entsetzt. Die armen Tiere. Zum Glück ist das brennende Gebiet unbewohnt und der See zwischen uns und dem Feuer. Heute sind wir einfach zu müde um uns Gedanken zu machen. Wir fallen einfach todmüde in unsere schönen Betten!